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Lehrmeister der Unvernunft

Ausgerechnet an der Universität ersetzt das «richtige Bewusstsein» das eigenständige Denken.

 

Der moderne Konformismus des Denkens ist eine Konsequenz der Entmythologisierung, der Entzauberung der Welt1 – also eine Nebenwirkung der Aufklärung. Wir sagen, was man sagt, weil wir uns nicht mehr vom Gesetz, der Sitte und der Tradition getragen fühlen. Dieser für die moderne Welt so charakteristische Ordnungsschwund führt also geradewegs zum Konformismus. Denn wenn es keine verbindlichen Traditionsvorgaben mehr gibt, neigen die meisten dazu, zu denken, was die meisten denken. Die Emanzipation der Vernunft hat uns zu Sklaven des Mainstreams gemacht. Man kann es auch so sagen: Die Emanzipation der Vernunft von der Tradition hat ein Orientierungsvakuum geschaffen, das die Gewalt des Zeitgeists unwiderstehlich macht. Um uns diesen Konformismus schmackhaft zu machen, verkauft man ihn als sein Gegenteil: Individualisierung. Alle reden von Individualität, Diversität und Selbstverwirklichung – und alle denken dasselbe. So entsteht der Konformismus des Andersseins.

In einem über Jahrzehnte hinweg stabilen Selbstmissverständnis haben sich die kritischen, linken Bewusstseine für «anders» gehalten, d.h. für unbestechlich durch die Lockungen des Konsums und immun gegen den Zeitgeist. Doch gerade sie sind Konformisten des Andersseins. Der Linksintellektuelle macht Abweichung zum Business; seine Positivität ist die Negativität. Er beherrscht das Marketing des «Anti». Früher war er Salonsozialist. Heute tritt der Kritiker und Aktivist als Celebrity der Talkshows auf. Die Negation steht ihm gut.

Hofierte Störenfriede

Man kann leicht zeigen, wie die moderne Gesellschaft in den letzten 150 Jahren durch permanente Gesellschaftskritik immun gegen Kritik wurde.2 Seither ist «kritisches Bewusstsein» ein Markenartikel, den man in jedem Bewerbungsgespräch präsentieren muss. Wer heute für oder gegen XY demonstriert, darf damit rechnen, dass ihm die Adressaten des Protests wohlwollend auf die Schulter klopfen und sich mit dem Protestanten solidarisch erklären. Bei Fridays for Future haben wir das gerade wieder erlebt. Das Wort, das Christian Wernicke einmal für die Non Governmental Organizations geprägt hat, passt auch hier wunderbar: «die hofierten Störenfriede». Jeder hat sie gern.

Wenn wir nun etwas tiefer bohren, stossen wir auf Nietzsche, den Vollender der Aufklärung. Er hat erstmals die Wissenschaft als solche kritisiert. Was hat sie uns zu bieten, wenn moderne Wissenschaftlichkeit heisst: Ende der Gewissheit, Relativismus, Werteverzicht – oder in der berühmt gewordenen Formel von Paul Feyer­abend: anything goes? Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man dann in den Universitäten von Frankfurt und Paris die nihilistischen Konsequenzen gezogen. Die Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno kultivierte den Negativismus als Denkstil. Die kulturkritische Diagnose angesichts des Faschismus lautete: Die bürgerliche Aufklärung ist in Mythos umgeschlagen. Deshalb trugen die Salonsozialisten an den Universitäten Antibürgerlichkeit zur Schau. In Paris wurde wenig später die «Dekonstruktion» erfunden, eine Art Umwertung aller abendländischen Werte, so wie sie Nietzsche vorgedacht hat.3 Dem Frankfurter Antifaschismus entsprach in Paris der Antikolonialismus.

«Man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern hasst sie einfach. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht.»

All das hatte immerhin noch ein gewisses intellektuelles Format. Was sich nun aber seit der Revolte der 68er mit den Linksintellektuellen an den Universitäten getan hat, lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Das «kritische Bewusstsein» ist zur politischen Korrektheit mutiert. Der kürzlich verstorbene Berliner Philosoph Peter Furth, der die linke Universitätsszene wie kein zweiter kannte, hat in seiner brillanten Abschiedsvorlesung den hier entscheidenden Zusammenhang benannt: Politische Korrektheit ist die Macht des Konformismus, die andere zum Heucheln zwingt. Seither sind Bussrituale und Selbstbezichtigungen an der kulturellen und politischen Tagesordnung.4

Bekanntlich haben die Grünen das Erbe der Studentenbewegung angetreten. Ihr Erfolgsgeheimnis liegt darin, dass sie den Negativismus der Kritik durch eine politische Theologie ersetzt haben: das Narrativ von der Rettung der durch Umweltverschmutzung und Klimakatastrophe bedrohten Erde. Das verspricht neuen Halt inmitten des nihilistischen Strudels. Und das ist durchaus stilbildend geworden. Zunehmend verdrängen Narrative der Identität die wissenschaftliche Wahrheit, die eben nicht tolerant ist. Flankiert werden sie von der Sprachpolizei der Political Correctness.

Identität über alles

Die beste Definition der politischen Korrektheit findet sich schon in Thomas Manns «Betrachtungen eines Unpolitischen»: «die Auferstehung der Tugend in politischer Gestalt, das Wieder-möglich-Werden eines Moralbonzentums sentimental-terroristisch-republikanischer Prägung, mit einem Worte: die Renaissance des Jakobiners». Luther predigte noch spirituelle Freiheit in politischer Knechtschaft; wir haben heute spirituelle Knechtschaft in politischer Freiheit. Der politischen Korrektheit geht es nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern hasst sie einfach. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht.

So ist es den Linken zunächst an den Universitäten, dann aber auch in den Parlamenten und Redaktionen gelungen, durch Wortpolitik und Sprachtabus eine absolute Diskurshoheit zu etablieren. Die neuen Jakobiner mobilisieren Zauberwörter wie «Multikulturalismus», «Respekt» und «Diversität». Diese Begriffe leben davon, dass sie undurchdacht bleiben. Denn nur wenn es eine Leitkultur gibt, kann man multikulturell eingestellt sein. Man kann nicht tolerant sein, wenn man keine eigenen Werte zu verteidigen hat. Man kann nicht offen sein, wenn man nicht selbstbewusst ist. Ich stehe zu meinen Überzeugungen – im vollen Bewusstsein der Alternativen. Und ich muss nicht respektieren, was ich toleriere. Toleranz ist nämlich das Klima der Koexistenz von Andersgläubigen. Friedliche Koexistenz gibt es nur durch Verzicht auf Konsens. Das müsste einem schon der gesunde Menschenverstand sagen – doch der wird in der Kultur der politischen Korrektheit zum Schweigen gebracht.

Der Exorzismus der Aufklärung konnte die Gespenster nur vertreiben, indem er zugleich den Geist austrieb. Wenn das die Tragödie der Aufklärung war, dann wiederholt sie sich heute in der Farce, dass viele Wissenschafter den Geist verraten, um Karriere zu machen. Statt nach der Wahrheit zu suchen, beraten sie Politiker. Gerade bei Themen wie Klima und Migration erweisen sie sich gerne als regierungsnahe Aktivisten. Aber Wissenschafter, die warnen und mahnen, sind keine. Man könnte sie Gefälligkeitswissenschafter nennen. Zusammen mit den «Schneeflocken», den hysterischen, hypersensiblen Studenten der Greta-Generation, zerstören sie die Universität. Charakteristisch für diese «Schneeflocken» ist die Arroganz der Schwachheit, ein aggressiver, selbstgerechter Moralismus. Unduldsame moralische Überlegenheit und die hohe Kunst des Beleidigtseins formen den autoritären Charakter von heute.

An dem typischen Campusphänomen der politischen Korrektheit kann man sehen, dass heute nicht mehr die Wissenschaft verfolgt wird, sondern sie selbst die Verfolgung des häretischen Geistes organisiert. Auch an Universitäten darf man heute dumm sein, aber man darf nicht von der Parteilinie abweichen. Viele Professoren reagieren darauf mit innerer Emigration oder der Flucht in die ausseruniversitäre Reputation. Zumeist verwirklicht der Professor dann seine akademische Freiheit als Bockigkeit.

Studenten und Professoren haben vor allem an geisteswissenschaftlichen Fakultäten heute eine gute Chance, in ein Treibhaus der Weltfremdheit hineinzugeraten. Man muss nicht mehr erwachsen werden, man wird emanzipiert. Das ist vielleicht die schwerste Folgelast der Studentenbewegung. Sie wiederholt sich heute als die Farce der politischen Korrektheit. Ihr «Diskurs» setzt sich zusammen aus «Demobürokratie» (Niklas Luhmann) und Sprachhygiene, aus Moralismus und Heuchelei, aus Sozialkitsch und einer politisch gefährlichen Perversion der Toleranz.

Parteigeist erstickt Wahrheit

Eine Gesellschaft, die sich weder an Religion noch an bürgerlicher Tradition und gesundem Menschenverstand orientieren kann, wird zum willenlosen Opfer eines Tugendterrors, der in Redaktionen und Antidiskriminierungsämtern, aber vor allem an den Universitäten ausgebrütet wird. Man darf ihn übrigens nicht offiziell als politische Korrektheit ansprechen – das wäre politisch unkorrekt. Alan Charles Kors und Harvey A. Silverglate haben in ihrem eindrucksvollen, beklemmenden Report über den akademischen Verrat an der Freiheit, «The Shadow University», die heutige Universität als den grössten Feind der freien Gesellschaft bezeichnet, weil sie die Studenten nicht mehr als Individuen, sondern als Verkörperungen von Gruppenidentitäten behandelt und sie entsprechend in Gruppenrechten unterrichtet.

Die politisch Korrekten haben den Politikern erfolgreich eingeredet, Universitäten seien pluralistische Institutionen, die nach Proporz und Quote besetzt werden müssten. Das neue Stichwort «Diversity» heisst nämlich nichts anderes als: Bevorzugung bestimmter politisch organisierter Gruppen, die Erhöhung von Gruppenanteilen. Der modische Relativismus und die Diversity-Forderung wirken an Universitäten besonders verheerend, denn die Wahrheit ist nicht tolerant. An den Universitäten hat der Parteigeist das Interesse an Wahrheit erstickt.

«Mehr Demokratie wagen heisst, mehr Bürokratie in Kauf zu nehmen. In allen Lebensbereichen erzeugt mehr Demokratie mehr Bürokratie, weil sich die Leute über ihre Ansprüche definieren, die der Staat als Rechte schützen soll.»

Diversität, der neue Kultbegriff aller politisch korrekten Behörden und Universitäten, bedeutet im Klartext Konformismus. Wir haben es hier mit einer schlichten Umkehrung des Kulturchauvinismus zu tun. Der Westen gilt nichts, Asien und Afrika sind Vorbilder. Diversität heisst also: alle minus eins. Und dieses eine ist die westliche Kultur der weissen Männer. So wird das Anderssein zur Zwangsjacke. Politische Korrektheit ist Aufklärung als Farce: Du sollst keine Vorurteile haben! Alle sind gleich verschieden! Dabei schliessen sich die Zeithorizonte wie bei Nietzsches Tieren, die an den Pflock des Augenblicks angekettet sind. Alles, was der Kultur der politischen Korrektheit historisch vorausging, gilt nun als reaktionär.

Zwei gut gemeinte Utopien des 20. Jahrhunderts haben die europäische Universität zerstört. Da gab es zunächst die erstmals durch die Studentenbewegung vorgetragene Utopie von innen, nämlich die Demokratisierung von Lehre und Forschung durch Mitbestimmung und Gruppenuniversität. Es zeigte sich aber sehr rasch: Mehr Demokratie wagen heisst, mehr Bürokratie in Kauf zu nehmen. In allen Lebensbereichen erzeugt mehr Demokratie mehr Bürokratie, weil sich die Leute über ihre Ansprüche definieren, die der Staat als Rechte schützen soll.

An der Universität zeigen sich diese Probleme der Demokratie in grösster Deutlichkeit, und zwar, neben der Bürokratie, vor allem an Mittelmässigkeit und Verlogenheit. Selbstverwaltung hatte das Ziel der Autonomie, aber zum Ergebnis die Bürokratie. Dem politischen System ist das durchaus recht. Denn die Ministerialbürokratie hat sich in den Universitäten mit der «Selbstverwaltung» einen Ansprechpartner geschaffen, mit dem man flüssig kommunizieren kann. Der einzelne Professor mit seinem Eigensinn kann hier nicht mehr störend dazwischenkommen.

Die zweite gut gemeinte Utopie, die die deutsche Universität zerstört hat, ist eine Utopie von aussen und heute an die schöne Stadt Bologna geknüpft. Gemeint ist die europanormierte Technisierung von Lehre und Forschung durch Module und Projekte. An der Idee Humboldts gemessen handelt es sich hier ganz schlicht um eine Verstaatlichung des Geistes. Und da sich die Forschung zumal eines Geisteswissenschafters nicht so gut organisieren und überwachen lässt wie die Lehre, erklingt überall die Einschüchterungsvokabel «Drittmittel». In der Tat verwandelt sich die Universität immer deutlicher in eine Welt der Drittmittel und der Gefälligkeitsgutachten. Wie heisst es doch in Ernst Jüngers Roman «Heliopolis»: «Den Professoren wird das Apportieren beigebracht.»

Wer sind die Gewinner des Bologna-Prozesses? Zu den Gewinnern gehören die Verwaltung, deren Bedeutung ins Groteske angewachsen ist, und die Wissenschaftsfunktionäre in den Gremien. Gewinner sind aber auch die Professoren, die lieber Lehrer sein möchten, und die Studenten, die lieber Schüler bleiben wollen. Verklärt wird das Ganze durch die konsumistische Rhetorik vom Studenten als Kunden. Den Hauptgewinn aber streichen die politisch Korrekten ein. Denn die ideologische Färbung eines Bewerbers wiegt viel schwerer als seine Qualität. Vor allem die Freiheit der Berufung ist durch die Gleichstellungspolitik und Quotierung radikal beschnitten worden. Im Grunde weiss das jeder, der an einer Universität tätig ist. Aber man kann es nur hinter vorgehaltener Hand sagen, solange man noch Karrierepläne hat.

Wer dieses düstere Bild überzeichnet findet, wird zu Recht darauf hinweisen, dass es sich hier vor allem um Exzesse in den Geistes- und Sozialwissenschaften handelt. Und in der Tat: «Toleranz» wird es in der Mathematik nicht geben; das «Gender Mainstream­ing» wird in der Astrophysik keine Auswirkungen haben; und «Diversity» wird die Investitionsrechnung der Betriebswirtschaftslehre nicht verändern. Deshalb kann man vermuten, dass intelligente junge Leute, die sich nicht vom Zeitgeist versklaven lassen, zunehmend in die harten Studienfächer gehen werden, die in Amerika «Sciences» genannt werden – echte Wissenschaften. Die «Humanities» überlässt man dem Wahnsinn.

  1. Gemeint ist natürlich Max Webers berühmte These über die Rationalisierung unserer Welt durch Wissenschaft, die uns die Gewissheit gegeben hat, dass alles durch Berechnen beherrscht werden kann. Seither aber leben wir in der schmerzlichen Spannung zwischen einer in einen kausalen Mechanismus verwandelten Welt und der Forderung einer ethisch sinnvoll orientierten Ordnung. Vgl. dazu vor allem Webers Rede «Wissenschaft als Beruf».

  2. Man denke nur an die europäische Tradition der Antibürgerlichkeit von Nietzsche bis zu den 68ern, an den Salonsozialismus der Neomarxisten (Frankfurter Schule) und die edlen Biotope der Linksintellektuellen in Universitäten und Redaktionen.

  3. Jacques Derridas mittlerweile weltweit beliebter Begriff «Dekonstruktion», dessen Sex-Appeal ja darin besteht, dass er Destruktion und Konstruktion zusammen denkt, erhebt den Antikolonialismus ins Philosophische: Alle abendländischen Werte werden deklassiert, alle westlichen Errungenschaften in Frage gestellt. Athen und Rom sind unwichtig, nur die indigenen Kulturen und ihre Lebensformen zählen.

  4. Furth war zunächst ein Exponent der neomarxistischen Linken an der Freien Universität Berlin, bevor er begann, an einer Genealogie dieser Linken zu arbeiten. Seine Abschiedsvorlesung «Heuchelei und moralische Weltanschauung» findet sich in: Norbert Bolz (Hrsg.): Wer hat Angst vor der Philosophie? München: Fink, 2012. Vgl. dazu auch die Trauerrede «Denker der Ernstfälle ‹Arbeit› und ‹Tod›» von Andreas Lombard. In: Cato, Heft 5/2019.

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